Die Soziologie der ländlichen Moderne

Émile Durkheim (1858-1917) war einer der frühen Vordenker mediterraner Unterentwicklung.

Seit den Zeiten des französischen Positivismus hatte der Topos mediterraner Unterentwicklung einen festen Platz im Kanon soziologischer Forschung. Der Mittelmeerraum wurde dabei zum ursprünglichen archaischen „Anderen“ des industrialisierten Nordeuropa.


Pierre Guillaume Frédéric Le Play (1806-1882).

Die Frage der Definition von ‚Rückständigkeit‘ wurde nicht zuletzt auch zu einer Frage der Techniken und Methoden von deren Untersuchung. Im frühen 20. Jahrhundert erlangte die französische Schule der réforme sociale in dieser Beziehung besondere Bedeutung. Die Beobachtung familiärer Clanstrukturen in den Gesellschaften und Gemeinschaften rund um das Mittelmeer entwickelte sich zu einem methodischen Angelpunkt. Hierbei kamen die infrastrukturelle Erreichbarkeit entlegener Regionen und die Fantasien technologischer Machbarkeit in der Erfassung sozialer Probleme durch statistische Methoden zusammen. Dabei waren die Wissenschaftler (und ab der Zwischenkriegszeit zunehmend auch die Wissenschaftlerinnen) ihrem Selbstverständnis nach nie nur neutrale Beobachtende. Stattdessen meinten sie durch ihre Untersuchungen abgelegene Regionen für die Außenwelt zu öffnen und diese mit größeren sozialen Problemen in Verbindung zu setzen.


Auf solchen Karten sollten türkische Bauern in den 1940er Jahren ihre subjektive geographische Vorstellung des eigenen Dorfes festhalten.

Diese Schule der ingénerie sociale hatten eine breite Wirkung auf die entstehende Sozialwissenschaften rund um das Mittelmeer. Sie definierten Untersuchungsmethoden und -agenden und trugen zu einer neuen Dorfsoziologie bei, die sich als Motor gesellschaftlichen Wandels verstand.


I.P. etablierte das Begriffspaar "Honor and Shame" als ethnologisches Interpretationsangebot für die gesellschaftlichen Strukturen im Mittelmeer.

Auch in der Nachkriegszeit blieb das Mittelmeer ein beliebtes Betätigungsfeld der Sozialwissenschaften. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten trat die Ethnologie das Erbe des braudelschen Mittelmeertopos an und untersuchte das mediterrane Becken als geschlossenen kulturellen Raum.


Zugleich übernahm diese Ethnologie einen guten Teil des kolonialen strukturfunktionalistischen Erbes. Im Vordergrund standen dabei von Anfang an die Fragen der Erfassung kleiner communities, dörflicher und familiärer Gemeinschaften.

Das Projekt fragt nach den Kontinuitäten in konzeptioneller, methodischer und personeller Hinsicht zwischen kolonialer Ethnologie und mediterraner Sozialwissenschaft und ihrer Wirkmächtigkeit in Hinblick auf die Diskurse mediterraner Unterentwicklung.