Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie historischer Zeiten zwischen Spätaufklärung und Posthistoire
Habilitationsprojekt von Dr. Fernando Esposito
Während der Industriemoderne war die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eine konstitutive temporale Ordnungsvorstellung westlicher Gesellschaften. Sie bildet den Gegenstand der transnational ausgerichteten Untersuchung. Der Topos der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen diente dazu, sich selbst sowie fremde Gesellschaften in der Geschichte zu verorten, und machte den dynamischen Wandel als Fortschritt fassbar. Wenngleich erst Pinder (1926) und Bloch (1935) den Topos ausdrücklich formulierten, gründete er auf einem Ungleichzeitigkeitsdenken, das in etwa ab den 1860er Jahren in der Ethnologie/Anthropologie verwissenschaftlicht wurde. Im Raum verteilte Völker, ihre sozialen, ökonomischen, politischen und religiösen Institutionen wurden verzeitlicht und in ein evolutionistisches Kulturstufenmodell eingeordnet. Fortan galten sie etwa als fortschrittlich und zivilisiert oder aber als rückständig, barbarisch oder primitiv. Auf der Basis des Ungleichzeitigkeitsdenkens und der temporalen Taxonomie, die aus ihm folgte, bildete sich eine für die Industriemoderne paradigmatische chronopolitische Praxis heraus: Mittels Zivilisierung, Entwicklung oder Modernisierung sollte Ungleichzeitigkeit beseitigt und Fortschritt herbeigeführt werden. Das erkenntnisleitende Interesse ist von der Frage nach dem semantischen Wandel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bestimmt. Zugleich untersucht das Projekt die praktische Implementierung des Ungleichzeitigkeitsdenkens. Um den semantischen Wandel zu verdeutlichen, richtet das Vorhaben seine Aufmerksamkeit auf zwei paradigmatische Formationen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, welche die Anthropologie hervorgebrachte: eine klassische, die sich ab etwa 1860 herauskristallisierte, und eine neuere, alternative Formation. Die Untersuchung nimmt zudem einen mustergültigen Anwendungsfall des klassischen Ungleichzeitigkeitsdenkens in den Blick, nämlich die zur Jahrhundertwende forcierte Entwicklung des italienischen Südens. Anhand des von der UNESCO geführten Kampfes gegen den Rassismus zeigt sie zudem die Divergenz auf, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den dort versammelten Theoretikern der Ungleichzeitigkeit und den chronopolitischen Praktikern bestand. Fußte die Modernisierung des globalen Südens auf der klassischen Formation der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, so stellten die Anthropologen das zugrundeliegende Fortschrittskonzept in Frage. Sie setzten die synchrone Vielfalt soziokultureller Zeiten an die Stelle der diachronen Dissonanz und brachten eine neue Formation der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hervor, dessen Strukturen das Vorhaben verdeutlicht. Ziel des Projekts ist es, einen grundsätzlichen Beitrag zur Zeiten-Geschichte der Industriemoderne zu liefern. Der Mehrwert des Projekts gründet darüber hinaus in dem Versuch, die Frageperspektive der Chronopolitik in der Geschichtswissenschaft zu etablieren und zu einer Systematisierung von Pluritemporalität beizutragen.