Zeitzeugen*innen zwischen Autentizität und Digitalität
Historisch Denken lernen mit Zeitzeug*innen:
Die Einbeziehung von Zeitzeug*innen im Geschichtsunterricht wird in den Bildungsplänen aller Bundesländer und in nahezu jedem fachdidaktischen Handbuch empfohlen. Gleichzeitig werden die Risiken von Zeitzeug*innenarbeit im Unterricht diskutiert, beispielsweise die besondere Überzeugungskraft von Zeitzeug*innen, die der Förderung der Kompetenzen historischen Denkens abträglich sein könnte. In mehreren Studien untersuchen wir die Wirksamkeit von Zeitzeug*innen im Geschichtsunterricht. Das Dissertationsprojekt „Chancen und Risiken von Zeitzeug*innenbefragungen“ stellt den Ausgangspunkt für drei weiterführende Projekte dar. In einem laufenden Promotionsprojekt wird ein standardisiertes Instrument zur Erfassung der „besonderen Lernerfahrung mit Zeitzeug*innen“ entwickelt. Dieses wird wie auch die Videointerviews der „Generation 1975“ in der DFG-Zeitzeug*innenstudie eingesetzt, einer randomisierten und kontrollierten Feldstudie, in der die geschulten Lehrkräfte die Intervention mit Live- und Videozeitzeug*innen unterrichten.
Chancen und Risiken von Zeitzeug*innen im Geschichtsunterricht
In der Dissertationsstudie „Chancen und Risiken von Zeitzeug*innenbefragungen. Eine randomisierte Interventionsstudie im Geschichtsunterricht“ wurde untersucht, welche Wirkung die Arbeit mit lebendigen Zeitzeugen versus der Arbeit mit Zeitzeug*innenvideos und mit Transkriptionen auf den Unterrichtserfolg hat. In insgesamt 35 Klassen - jeweils zehn Klassen pro Bedingung (Live, Video, Text) und fünf Kontrollklassen – wurde die Wirksamkeit in Bezug auf die Förderung historischer Kompetenzen und des Interesses an dem Unterricht erforscht. Hinsichtlich der motivationalen Outcomes zeigten sich deutliche Vorteile für die Live-Gruppe im Vergleich zur Video- und Textgruppe, der allerdings Nachteile hinsichtlich der Kompetenzförderung gegenüberstanden.
In einer vertieften Auswertung wurde – dem Aptitude-Treatment-Interaction-Paradigma (ATI) folgend – die differenzielle Wirksamkeit der Zeitzeug*innenintervention für Lernende mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen erforscht. Die Studie untersuchte, inwiefern sich der Einfluss der verschiedenen Formate der Zeitzeugenintervention für Schüler*innen mit unterschiedlichem Selbstwert und sozialem Selbstkonzept auf ihre Einsicht in die epistemologischen Prinzipien von Geschichte unterschied. Die Ergebnisse zeigten, dass Schüler*innen mit hohem Selbstwert und sozialem Selbstkonzept von der Live- wie auch der Video/Textbedingung gleichermaßen profitieren. Schüler*innen mit einer niedrigen Ausprägung auf den betrachteten Variablen schienen hingegen mehr von der Video/Textbedingung zu profitieren.
Der Datensatz der Zeitzeug*innenstudie wurde mit zwei weiteren Datensätzen in einer Sekundärdatenanalyse von Benjamin Fauth und Kolleg*innen in einer Studie zur Unterrichtsqualität verwendet. Der zentrale Befund: Die Variable „Unterrichtsqualität“ – verstanden als die Tiefenstrukturen des Unterrichts: kognitive Aktivierung, Klassenführung und Unterstützung – hängt weniger, wie in der Forschung, Öffentlichkeit und Bildungspolitik weithin angenommen, in erster Linie an der Lehrkraft und ihren Unterstützungsangeboten und Kompetenzen, sondern vor allem an dem Zusammenspiel in der jeweiligen Klasse zwischen der Lehrkraft und den Lernenden.
Ansprechpartnerin: Christiane Bertram
Publikationen (Auswahl):
Bertram, C., Wagner, W. & Trautwein, U. (2017). Learning historical thinking with oral history interviews. A cluster randomized controlled intervention study of oral history interviews in history lessons. American Educatioinal Research Journal. First published date: February-01-2017. doi:10.3102/0002831217694833
Bertram, C. (2017). Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie (Reihe Geschichtsunterricht erforschen). Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag
Zachrich, L., Wagner, W., Bertram, C., Trautwein, U. & Nagengast, B. (in Überarbeitung). When Some Students are Better Off With Lessons “As Usual”: An Aptitude-Treatment Interaction Study in the History Classroom. Contemporary Educational Psychology.
Fauth, B., Wagner, W., Bertram, C., Göllner, R., Roloff, J., Lüdtke, O., Polikoff, M. S., Klusmann, U., & Trautwein, U. (2019, November 7). Don’t Blame the Teacher? The Need to Account for Classroom Characteristics in Evaluations of Teaching Quality. Journal of Educational Psychology. Advance online publication. http://dx.doi.org/10.1037/edu0000416
Medienpräsenz:
Link zum Interview "Zeitzeugen im Geschichtsunterricht" mit JProf. Dr. Christiane Bertram, in: SWR2, Sendung vom 25.04.2017.
Link zum Zeitungsartikel "Lernen mit Zeitzeugen", in: SpiegelOnline, 21.04.2017
Link zum Zeitungsartikel "So wertvoll sind Zeitzeugen für erfolgreichen Geschichtsunterricht", in: Südkurier, 20.03.2018.
Weitere Pressemitteilungen finden Sie hier.
Die besondere Lernerfahrung mit Zeitzeug*innen – Ein Promotionsprojekt
Die Ergebnisse der ersten Zeitzeug*innenstudie weisen darauf hin, dass die Begegnung mit einem Live-Zeitzeugen eine komplexe Lernerfahrung darstellt, die sich auf den Erwerb von Kompetenzen historischen Denkens der Lernenden auswirkt. Charakteristika der Schüler*innen spielen nach den vertiefenden Interaktionsanalysen der Zeitzeug*innenstudie eine besondere Rolle für die Wirksamkeit der Intervention. Deshalb geht Lisa Zachrich in ihrem Dissertationsprojekt der Frage nach, was "das Besondere" dieser Begegnung mit einem Zeitzeugen ist. Teilweise in Anlehnung an bestehende Erhebungsinstrumente, teilweise in Eigenentwicklung wurde ein standardisierten Fragebogen entwickelt. Von einem theoriebasierten Rahmenmodell ausgehend, entwickelt sie ein standardisiertes Messinstrument, um die möglichen kognitiven, emotionalen und physischen Reaktionen auf die Begegnung mit Zeitzeug*innen empirisch fassbar zu machen.
Kooperation: Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung und Universität Konstanz
Ansprechpartnerin: Lisa Zachrich
DFG-Zeitzeug*innenstudie - Eine randomisierte und kontrollierte Feldstudie
Im Fokus dieser Studie steht die Frage nach der differenziellen Wirkung der Arbeit mit "lebendigen" und "digitalen" Zeitzeug*innen. In der groß angelegten Interventionsstudie, die den Standards der Randomized Controlled Field Trials folgt, werden die Videos der „Generation 1975“ genutzt: Die in Fortbildungen geschulten Lehrkräfte arbeiten in ihren Klassen entweder mit Live-Zeitzeug*innen oder mit den Zeitzeug*innen-Videos der „Generation 1975“. Ziel ist es, die Effekte der Zeitzeug*innenintervention bezogen auf die Schüler-Outcomes Wissen und Kompetenzen sowie Motivation und Interesse zu untersuchen. Um die Verarbeitungsprozesse bei den Schüler*innen besser zu verstehen, setzen wir den standardisierten Fragebogen aus dem Promotionsprojekt „Die besondere Lernerfahrung mit Zeitzeug*innen“ von Lisa Zachrich ein, so dass wir den Einfluss der besonderen Erfahrung der Zeitzeug*innenbegegnung auf die Effekte der Arbeit mit Zeitzeug*innen in der Live- versus Video-Bedingung untersuchen können. Am 30./ 31. März fand die Pilotierung der Lehrerfortbildung statt. Insgesamt werden an der Haupterhebung 72 Lehrkräfte mit ihren ca. 2000 Schüler*innen teilnehmen und den "Bildungsplan 1026" dann am Ende der 9. Klasse um das Kapitel der Transformationsprozesse nach 1990 erweitern.
Kooperation: Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, Universität Tübingen: Ulrich Trautwein, Wolfgang Wagnerund das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL): Stefan Schipperges und Carsten Arbeiter
Ansprechpartnerin: Jun.-Prof. Dr. Christiane Bertram
Flyer: DFG-Unterrichtsstudie